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Michel Onfray

Michel Onfray, Theorie der Diktatur

Von Wolfram Schrems

Der französische Philosoph Michel Onfray ist eine schillernde Persönlichkeit. Er hat in Frankreich viele „Fans“ und viele Gegner. Onfray ist nach eigenen Angaben Atheist, andererseits bedauert er die Entchristlichung des Christentums, die Veränderungen durch das II. Vaticanum und die Islamisierung Europas. Nicht alles ist bei ihm streng genommen widerspruchsfrei. Eine Sache ist dem Rezensenten aber völlig klar: In der Theorie der Diktatur zeigt sich ein scharfer Analytiker und ein origineller Denker. Vorliegendes Buch bietet das Instrumentarium zur Analyse und Demaskierung politischer Propaganda, die ihrerseits der Errichtung einer Diktatur dient.

Michel Onfray, Dr. phil., wurde 1959 in der Normandie geboren und arbeitete als Gymnasialprofessor in Caen. Dort gründete er die Volksuniversität Caen. Er ist freier Schriftsteller und seit 2020 Herausgeber einer Quartalsschrift (Front populaire). Er ist Experte für Nietzsche, Camus und Proudhon. Er verfaßte fünfzig Bücher, die in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt wurden. Ab 2010 änderte er manche Positionen und begann, obwohl weiterhin „Linker“, manche „linke“ Positionen vehement zu kritisieren, so die Gender-Theorie, die Huldigung der Europäischen Union und die unrealistische Haltung des Westens gegenüber dem Islam. Im Jahr 2018 ergriff er Partei für die Proteste der Gelbwesten.

Onfray wertet nach grundsätzlichen Erwägungen zur Geschichte der Diktatur, von Sulla über Cromwell bis zum Kommunismus, und nach detaillierten Darstellungen französischer Vorgänge die beiden dystopischen Warnungen George Orwells (eigentlich Eric Arthur Blair), 1984 und Farm der Tiere, aus, um allgemeine Einsichten zu gewinnen. Aus ersterem Werk destilliert er eine „Theorie der Diktatur“, aus zweiterem, das er für „noch düsterer“ hält als 1984, eine „Theorie der Revolution“.

Onfrays Grundaussage stellt die Europäische Union in einen Zusammenhang mit Orwells Dystopien:

„Ich stelle die Hypothese auf, dass das Maastrichter Imperium eine Gestalt gewordene Form der totalitären Gesellschaft ist, die Orwell in diesem Roman [1984] beschreibt“. – (40)

Sieben Gebote zur Errichtung einer Dikatur

  • die Freiheit zerstören, 
  • die Sprache verarmen, 
  • die Wahrheit abschaffen, 
  • die Geschichte auslöschen, 
  • die Natur leugnen, 
  • den Haß anheizen, 
  • das Imperium anstreben.

Diese Anweisungen für einen Diktator werden wiederum in Unterkapiteln präzisiert. Wir sehen sofort die Nutzanwendung, zumal kurz nach dem Erscheinen des französischen Originals die Corona-Kampagne gestartet wurde, die ihrerseits Züge der Diktatur zeigt.

Dem Rezensenten scheint zunächst besonders die Zerstörung der Sprache als für unsere Zeit charakteristisch, die unumschränkte Herrschaft von Phrasen, Lügen und Doppeldenk, die totale Entkoppelung der Sprache von der Realität. Onfray verteidigt die dem gesunden Menschenverstand entsprechende Logik und würdigt sogar – bemerkenswert für einen Atheisten – die intellektuellen Anstrengungen des christlichen „Mittelalters“:

„Es gibt eine Kunst des Denkens, die von mehr als zwei Jahrtausenden Entwicklung profitiert hat. Die sokratische Dialektik, die aristotelische Logik, die römische Schule der Rhetorik, die mittelalterliche Scholastik, all diese Bewegungen haben einige Regeln der Logik ermöglicht. So auch das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, wonach, wenn etwas ist, nicht zugleich das Gegenteil wahr sein kann. (…) Zu denken, dass dies gleichzeitig möglich und eine denkbare logische Formel sei, ist intellektueller Nihilismus“. – (66)

Die beiden letzten Sätze des Zitats mögen als Einspruch gegen die alles auflösenden Denkmuster ostasiatischer Kulte aufgefaßt werden, die sich ja auch rasch in Europa ausbreiten.

Dem Rezensenten erscheint zweitens die Verbreitung von Haß von aktueller Relevanz (208). Das Regime in 1984 setzt den Haß gegen einen (höchstwahrscheinlich imaginären) äußeren Feind namens Emanuel Goldstein ein, um Partei und Volk besser zu steuern und von realen Problemen im Inneren abzulenken. Sofort treten in diesem Zusammenhang Saddam Hussein, Wladimir Putin, Alexander Lukaschenko, Baschar al-Assad, Viktor Orbán u. a. ins Bewußtsein westlicher Medienkonsumenten. (Nicht daß diese Männer immer und in jeder Hinsicht vorbildlich waren oder sind, aber sie dienen der Propaganda als Zielscheiben für ihre eigenen, auch nicht per se lauteren und vorbildlichen, vielleicht noch verwerflicheren Interessen.)

Demselben Zweck dient die Förderung des Hasses nach innen. Er zerstört die Beziehungen, unterminiert das Vertrauen und macht das Leben zum Vorgeschmack der Hölle. In Zeiten des Kampfes gegen „hate speech“, den die europäischen Regierungen führen, mag das irrelevant klingen. Das Gegenteil ist aber der Fall: Denn als „hate speech“ werden erfahrungsgemäß entweder die Verkündigung des christlichen Glaubens und der Gebote oder aber wahrheitsgemäße Aussagen zu heiklen Themen diffamiert. Damit werden diejenigen, denen man „Haßrede“ vorwirft, mehr oder weniger ausdrücklich und beabsichtigt zu legitimen Zielen von – Haß.

Drittens scheint auch der Umgang des Orwellschen Regimes mit der Sexualität eine Warnung für uns Zeitgenossen zu sein:

In 1984 fördert die Partei Kampagnen zur „Keuschheit“, die aber in Wirklichkeit die Zerstörung der Person, der menschenwürdigen Sexualität und des ehelichen Lebens meint. Gleichzeitig wird die Prostitution geduldet und indirekt gefördert. Der Staat selbst produziert darüber hinaus pornographische Massenliteratur.

Der totale Staat ist also bestrebt, „…die Sexualität zu einem Objekt von Handel und Konsum zu machen; die sexuelle Beziehung zu virtualisieren, die Libido durch die Pornoindustrie zu zerstören; das Leben zu hygienisieren, während man gleichzeitig den Todestrieb fördert“. (- 213)

Die Ablehnung von Humanae vitae durch weite Teile der Christenheit etwa 20 Jahre nach Orwells Warnung hat sich als Desaster erwiesen. Die Menschen sind dadurch nicht glücklicher geworden. Und sie sind dem social engineering der skrupellosen Mächtigen ins Netz gegangen.

Es ist bemerkenswert, daß Orwell auch auf diesem Gebiet (übrigens etwa zeitgleich mit C. S. Lewis, Die böse Macht) de facto die katholische Haltung unterstützt.

Animal Farm: Kritik der Revolution und des „Fortschritts“

Was in der Farm der Tiere, einer bissigen Parabel auf die frühe Sowjetunion, viel stärker als in 1984 zum Ausdruck kommt, ist die freiwillige „Komplizenschaft“ so vieler Menschen (183). Sie ermöglicht die Kontrolle umso besser. Wie wir vor allem während der Corona-Kampagne gesehen haben, setzen sich viel zu viele Menschen freiwillig und mit gläubiger Inbrunst der offiziellen Propaganda aus. Korrigierende und widersprechende Stimmen werden ausgeblendet, Abweichler denuziert, das Blockwarttum blüht.

Und weil Onfray das „Maastrichter Imperium“ anprangert: Hat uns die EU nicht einen rapiden Verfall an Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung gebracht? Aber haben die Leute diesem utopischen Projekt nicht zugestimmt (zumindest in Österreich und Ostmitteleuropa)?

Wiederum bemerkenswert ist die offene Kritik an blinder Fortschrittsgläubigkeit:

„Der Fortschritt ist zum Fetisch geworden und Fortschrittsglaube die Religion einer Epoche ohne Heiligkeit, die Hoffnung einer verzweifelten Zeit, der Glaube einer Zivilisation ohne Glauben“. (- 178)

Nach Onfray sind wir auf dem Weg, vor dem Orwell in seinen beiden Werken warnt, schon weit fortgeschritten.

Onfray als Kritiker der Revolution und der Revolutionen

Onfray kritisiert, und das muß extra herausgestrichen werden, die Französische Revolution vernichtend:

„Doch was hat die Revolution [von 1789] den einfachen und bescheidenen Menschen gebracht? Nichts! Sie waren unter der Monarchie arm und ausgebeutet und sie blieben es auch unter einem republikanischen System!“ (-113)

Ablehnend steht Onfray auch der Russischen Revolution gegenüber. Auch das ist in Zeiten wie diesen bemerkenswert.

Schließlich weist er auf das Phänomen hin, daß ehemalige Revolutionäre (unter ihnen Steinewerfer) im Frankreich der 60er Jahre wie Daniel Cohn-Bendit und Bernard-Henri Lévy nunmehr auf die Seite des Establishments und der Polizei gewechselt sind und die „Gelbwesten“ (offenbar tatsächlich eine nicht von oben initiierte und gesteuerte Protestbewegung gegen Öko-Wahn und Steuerdiktatur) beschimpfen.

In diesem Zusammenhang zitiert Onfray George Orwell, daß eine Revolution im Prinzip früher oder später dieselben Zustände herstellt, die sie bekämpft hat (112).

Mária Schmidt: eine Stimme aus der politischen Praxis

Der Verleger hatte die ausgesprochen glückliche Eingebung, die Direktorin des Museums „Haus des Terrors/Terror Háza“ in Budapest und Beraterin von Ministerpräsident Viktor Orbán für die deutsche Ausgabe um ein Vorwort zu bitten. Dieses Vorwort mit seinen Einsichten in den Zusammenhang von politischer Theorie und alltäglicher politischer Praxis erhöht den Wert des vorliegenden Buches noch einmal.

Unter dem Titel „Europas Hybris“ schreibt die habilitierte Historikerin eingangs:

„Der katholische Philosoph Tamás Molnár hat mich, die ich von der gerade gewonnenen Freiheit noch benommen war und dachte, mit dem Kommunismus sei es nun endgültig vorbei, vor drei Jahrzehnten zurechtgewiesen: ‚Der Kommunismus hat zwar 1990 eine bedeutende Niederlage erlitten, er ist jedoch weder altmodisch noch unglaubwürdig geworden. Er hat einfach seine Heimat gewechselt und ist von der Sowjetunion nach Amerika gezogen.‘“ (-7)

Zu den Ausführungen Onfrays selbst kommentiert sie:

„Der Autor zeigt, wie die sukzessive Aufhebung der Meinungsfreiheit, die Verarmung der Sprache, die Verhöhnung der Wahrheit, die Auslöschung der Geschichte bzw. der Vergangenheit, die Leugnung der Naturgesetze und die unseren Alltag durchdringende Angst uns zum Konformismus zwingen und die einstige freie Welt in ein Land des Hasses zu verändern beginnen. ‚Die alten Zivilisationen behaupteten, auf Liebe und Gerechtigkeit gegründet zu sein. Unsere ist auf Haß gegründet‘, schrieb Orwell in 1984 prophetisch“. ( -9)

Schmidt machte die für sie überraschende Entdeckung, daß George Orwell in maßgeblichen westlichen Kreisen ebensowenig wohlgelitten ist wie jeglicher Antitotalitarismus, der auch den Kommunismus ablehnen muß:

„Als das Budapester Museum Haus des Terrors im Jahr 2003 Orwells zu seinem hundertsten Geburtstag mit Ausstellungen, Büchern, Konferenzen gedachte, waren wir verblüfft und befremdet über die feindliche Einstellung der Briten. Ihre politische und kulturelle Vertretung war nicht nur bei unseren Veranstaltungen nicht präsent, sondern sie riet uns sogar von diesen ab. Da habe ich verstanden, dass Orwell ein Stachel im Fleisch nicht nur der Kommunisten, sondern auch der westlichen, sogenannten Fortschrittlichen ist“. (-10)

Frau Schmidt war Stipendiatin der Open Society Foundations von George Soros und kennt daher die Denkweise der liberalen, internationalistischen Eliten. Von daher wird man ihrer Stimme besonderes Gewicht zuerkennen müssen.

Resümee

Die Analysen Onfrays zu Orwell sind klarerweise ein Augenöffner für totalitäre Vorgänge, die sich – das wissen wir besonders aus der Corona-Kampagne – als „philanthropisch“ tarnen.

Kritisch sehen könnte man die Tatsache, daß Onfray – entgegen den Erwartungen, die der Titel weckt – keine vollständige Geschichte und Theorie der Diktatur vorlegt.

Onfray kommt trotz seines andernorts offen bekannten Atheismus immer wieder auf das Christentum zu sprechen, dem er für den Aufbau der abendländischen politischen Kultur und ihrer Errungenschaften positiven Einfluß zuerkennt. Leider geht er dabei nicht weit genug. Bedauerlich ist auch die unglückliche Rede von der „jüdisch-christlichen Zivilisation“ (etwa 27). Ein Philosoph müßte wissen, daß das eine das andere ausschließt.

Die Einreihung von General Franco in eine Reihe mit Lenin, Stalin, Trotzki, Hitler und Mussolini ist historisch falsch und tut ihm Unrecht (149). Hier hat Onfray eine Chance vertan, die beiden bedeutenden Iberer Francisco Franco und Antonio Oliveira de Salazar als Modell einer autoritären Herrschaft zu thematisieren (eventuell im Rückgriff auf Juan Donoso Cortés), die in chaotischen Zeiten Schlimmeres, und zwar viel Schlimmeres, verhindern kann.

Folgendes Zitat ist charakteristisch für die manchmal bemerkbare Widersprüchlichkeit in Onfrays Denken:

„Erinnern wir uns, dass das Christentum auch immer ein Interesse daran hatte, die Massen zu unterrichten, Schulen und Universitäten zu eröffnen, jedoch um Schüler und Studenten besser indoktrinieren zu können. Dabei sollte aber ebenso nicht vergessen werden, dass auch in einem Regime der liberalen Tyrannei die Indoktrination die gleichen Wege geht…“ . – (158)

„Das Christentum“ „indoktriniert“ nicht, die Kirche stellte aber im „finsteren Mittelalter“ alle intellektuellen und physischen Grundlagen her, nämlich Rezeption der antiken Philosophie, Erschaffung der Universitäten, Förderung der Person im Geist Jesu Christi, auf denen sich heute die „liberale Tyrannei“ austoben zu müssen glaubt. –

Unter dem Strich bleibt ein sehr gut gearbeitetes, dichtes und anspruchsvolles Buch, das viele Vorgänge der Gegenwart erklären und demaskieren wird können.

Der Rezensent schließt sich dem Klappentext des Verlegers an: 

„Noch ist die Praxis der Diktatur nicht vollends etabliert. Noch bleibt Zeit zum – Widerstand!“

Und wie auch immer Michel Onfray es mit Gott halten mag, dem Rezensenten kam angesichts eines mit scharfem Verstand und brennendem Herz verfaßten Buches immer wieder ein Wort der Schrift in den Sinn:

„Jesus sah, daß er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes“. – (Mk 12,34)

Michel Onfray, Theorie der Diktatur, aus dem Französischen von Louise Feldt, mit einem Vorwort von Mária Schmidt, Jungeuropa-Verlag, Dresden 2021, 221 Seiten, 22,-, Versandkostenfrei hier bestellen.

Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro-Lifer, politisch interessiert, metapolitisch tätig, ungläubig gegenüber den Hauptstrommedien. (Der Artikel erschien zuerst in Katholisches – Magazin für Kirche und Kultur)

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